Die Lektion der Krise: Wo ein politischer Wille, da ist auch ein Weg

Fachleute diskutierten in Aachen die überfällige Neuausrichtung des Sozialstaats in Deutschland

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Datum:
Do. 5. Nov. 2009
Von:
Thomas Hohenschue
Die aktuelle Wirtschaftskrise hat trotz ihrer dramatischen Dimension kaum Spuren in der Arbeitslosenstatistik hinterlassen. Ob es im Winter zu den gefürchteten Massenentlassungen kommt, ist noch nicht ausgemacht.
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Gleichwohl gilt es, sich jetzt über die künftige Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik zu verständigen. Denn so, wie es zurzeit läuft, geht es ohnehin nicht weiter. Über 100 Fachleute aus Kommunen, Argen, Verbänden und kirchlichen Initiativen suchten am 5. November 2009 in Aachen darüber den Dialog.

Der Ausgangspunkt des Austausches war durch die Veranstalter rasch skizziert: Seit 30 Jahren sei Arbeitslosigkeit in Deutschland eine politische Realität, sagte Pfr. Rolf-Peter Cremer von der Hauptabteilung Pastoral-Schule-Bildung des Bistums Aachen. Durch die neue Sozialgesetzgebung rutschten immer mehr Familien auch aus den Mittelschichten in die Armut ab, ergänzte Hermann-Josef Kronen vom Koordinationskreis kirchlicher Arbeitsloseninitiativen. Beides, Arbeitslosigkeit und Armut, verletze die Würde der betroffenen Menschen, so Pfr. Cremer.

Angesichts dessen sei der Handlungsbedarf groß, zumal es noch weitere Verwerfungen mit schlimmen Folgen gebe, wie Prof. Dr. Gerhard Bosch vom Institut Arbeit und Qualifikation der Uni Duisburg-Essen skizzierte. Die soziale Ungleichheit nehme rapide zu. Bei den Realeinkommen dünne die Mitte aus. Immer mehr Menschen würden von ihren teilweise skandalös niedrigen Löhnen nicht leben können und bezögen zusätzlich staatliche Transfergelder. Gegen diese unwürdige Entwicklung seien Mindestlöhne zu setzen, brach Bosch eine Lanze für tarifliche und gesetzliche Regelungen. Öffentlichkeit herzustellen für die Lebenslagen und Lebensperspektiven der Betroffenen, sei wichtig, aber nicht ganz einfach. Denn die Meinungsführerschaft prägten neoliberal ausgerichtete Wirtschaftsforschungsinstitute.

Dass der fünfte und schwerste Abschwung in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht die Arbeitslosigkeit erhöht hat, führte Dr. Alexander Herzog Stein vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung auf die besonnene Reaktion sowohl der Politik als auch der Unternehmen zurück. Neben des bislang erfolgreichen Einsatzes der Kurzarbeit erweise sich Deutschland in der Krise als Flexibilitätsweltmeister in der internen Organisation, so Herzog Stein, zum Beispiel mit Arbeitszeitkonten und intelligentem Umgang mit Urlaubszeiten. Wie lange die Unternehmen allerdings noch in das Halten von Personal investieren, darüber wagte er keine Prognose.

Wer aber arbeitslos wird, reiht sich rasch in die große Schar der Menschen ein, die teils seit Jahren von staatlichen Transfergeldern abhängen. Diese seien schlecht organisiert, bilanzierte Prof. Dr. Andreas Strunk aus Stuttgart, wozu die neue Sozialgesetzgebung beigetragen habe. Die Träger und Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege, die sich um die betroffenen Menschen kümmern, seien inzwischen vorrangig mit der Selbstbehauptung in ihren regionalen Märkten beschäftigt. Eine kritische sozialpolitische Haltung sei von der Sozialwirtschaft zurzeit nicht mehr zu erwarten, so Strunk. Um aber die Gängelung der Menschen durch Hartz IV zu beenden, gelte es sich zu vernetzen, parteilich zu werden und zu streiten.

Wie das geht, machte dann gleich Prof. Dr. Matthias Möhring-Hesse von der Uni Vechta deutlich, indem er deutliche Worte für die aktuelle Praxis bei Argen und Trägern der freien Wohlfahrtspflege fand. Das heutige System des Förderns und Forderns übe auf Langzeitarbeitslose einen unwürdigen Zwang zur Erwerbsarbeit aus. Das geschehe, ohne wirklich das Versprechen auf eine Teilhabe an der Gesellschaft einlösen zu können. Im Gegenteil: Manche Maßnahmen, vor allem die so genannten Arbeitsgelegenheiten, führten die Menschen in eine Sackgasse, weil diese Beschäftigungsformen eher ausgrenzten, als dass sie eine wahre Integration förderten. Möhring-Hesse forderte eine Abkehr vom Dogma der Vollbeschäftigung und eine Organisation des Arbeitsmarktes, die flexibles Handeln von erwerbsfähigen Personen ermöglicht.

Über diese Analysen und Visionen kam in Aachen in der Tat ein Dialog zu Stande. Vertiefung kann dieser Austausch in regionalen Netzwerken finden, denn dort gibt es gewisse Spielräume, um im Rahmen der Gesetze das Beste für die Menschen herauszuholen. Die Veranstalter wollen auch weitergehende Impulse der Tagung für die Praxis von Sozialwirtschaft, Verbänden und Kirche aufgreifen. Beim Denken über die Alternativen sollte eine Schere aus den Köpfen verschwinden, forderte abschließend Möhring-Hesse: In den nächsten zehn Jahren solle ihm angesichts der Billioneninvestition in den Finanzsektor keiner mit dem Totschlagargument kommen, vernünftige Maßnahmen seien nicht zu finanzieren. Wenn man eines aus der Krise gelernt habe, dann das: Wo ein politischer Wille ist, da gibt es auch einen Weg. In diesem Sinne müssten alle Beteiligten „politischer“ werden, um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu erreichen.

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